Lesson Study – eine Form kooperativer und evidenzbasierter Unterrichtsreflexion
Ein Bericht von Roland Knoblauch, Fachberater für Schulentwicklung und Fortbildner für Berufliche Schulen in Baden-Württemberg.
Lesson Study ist eine ideale Form, das Lernen durch die Augen der Schülerinnen und Schüler zu sehen (vgl. Hattie 2013) und damit den Unterricht gemeinsam weiterzuentwickeln. Lesson Study bedeutet sinngemäß übersetzt Unterrichtserforschung: Eine Gruppe von Lehrkräften – meist mit einem gemeinsamen fachlichen Hintergrund – wertet Unterrichtserfahrungen aus und leitet daraus Fragestellungen bzw. Ziele für die Weiterentwicklung des Unterrichts ab. Für diese Fragestellungen bzw. Ziele werden am Beispiel einer Unterrichtsstunde gemeinsam Lösungen entwickelt und im Unterricht erprobt. Durch die Beobachtung des Schülerlernens wird die Wirkung des gemeinsam erstellten Unterrichtskonzepts untersucht. Die durch die Beobachtung gewonnenen Daten können für eine Weiterentwicklung dieses Unterrichtskonzepts genutzt werden.
In der Regel beobachtet bei Lesson Study eine Lehrperson eine Lernerin oder einen Lerner während der gesamten Unterrichtsstunde, was neue Erfahrungen und Einblicke in Lernprozesse ermöglicht. Der Beobachtungsfokus liegt – im Unterschied zu den im deutschsprachigen Raum geläufigen Feedbackformen – nicht auf der Lehrperson, sondern auf dem Lernen der Schülerinnen und Schüler. Lesson Study untersucht den Zusammenhang zwischen Lehren und Lernen. Es konzentriert sich darauf, wie die Schülerinnen und Schüler die Inhalte lernen, die wir ihnen vermitteln wollen. Die dabei gewonnen Erkenntnisse können dazu beitragen, ihnen beim Lernen noch besser zu helfen und das Lehren weiterzuentwickeln. Lesson Study ist insofern eine Antwort auf aktuelle Impulse der Unterrichtsforschung (z.B. Hattie 2013, Helmke 2012, Rolff 2010), das Lernen und die Wirksamkeit des Lehrens stärker als bisher in den Blick zu nehmen.
Lesson Study ist eigentlich eine einfache Idee. Was liegt näher, als gemeinsam Unterricht zu planen, durchzuführen und die Wirkung zu beobachten, wenn Lehrkräfte den Unterricht weiterentwickeln wollen? So einfach die Idee ist – die Durchführung von Lesson Study ist ein komplexer Prozess, bestehend aus einem vereinbarten Erkenntnisinteresse, sorgfältiger Beobachtung des Schülerlernens und einer lösungsorientierten Auswertung der Beobachtungen. Bei der Durchführung von Lesson Study haben wir uns in Baden-Württemberg auf die langjährigen Erfahrungen in Japan (wo die Methode entwickelt wurde) und den USA (vgl. Catherine C. Lewis 2002) beziehen können. Inzwischen wird die Methode auch in einigen europäischen Ländern genutzt.
Lesson Study wird in vier Schritten mit jeweils ca. 3–4 Stunden Zeitbedarf durchgeführt:
- Einführung in Lesson Study, Auswertung von Unterrichtserfahrungen, Eingrenzen einer Forschungsfrage, Vereinbarung des Stundenthemas
- Gemeinsame Vorbereitung der Unterrichtsstunde
- Durchführung der Stunde durch ein Gruppenmitglied und Beobachtung des Schülerlernens durch die anderen Gruppenmitglieder
- Auswertung der Beobachtung und Sammlung von Lösungsideen für die Weiterentwicklung der Unterrichtsstunde (ggf. erneute Erprobung der Lösungsideen und Beobachtung des Schülerlernens)
Diese vier Schritte werden im Folgenden an Beispielen aus der Praxis veranschaulicht. Es hat sich gezeigt, dass die Eingrenzung einer Forschungsfrage essenziell für das Gelingen von Lesson Study ist. Sie bildet den Focus für den gesamten Verlauf. Solche Forschungsfragen wie folgende gehen aus den Erfahrungen hervor, die die Beteiligten mit dem Lernen ihrer Schüler/innen gemacht haben:
- Wie kann man das politische Interesse der Schüler/innen im Gemeinschaftskunde-Unterricht fördern?
- Wie kann man im Rahmen des Technischen Zeichnens das räumliche Vorstellungsvermögen der Schüler/innen fördern?
- Wie kann man Lernerfahrungen im schüleraktiven Unterricht gewinnbringend auswerten?
- Wie kann man unterstützen, dass Schüler/innen offene Lernsituation selbständig bearbeiten und dabei auf bereits Gelerntes zurückgreifen?
Im Lesson Study geht es also nicht nur um die gemeinsame Vorbereitung einer Unterrichtsstunde sondern auch um relevante Fragen des Lernens und Lehrens, mit denen Lehrkräfte im Unterricht immer wieder zu tun haben, und die exemplarisch und lösungsorientiert untersucht werden. Die Forschungsfrage fokussiert schon am Anfang von Lesson Study auf das Lernen der Schülerinnen und Schüler, sie dient dem Abgleich von Unterrichtserfahrungen und der Zielklärung.
Das vereinbarte Stundenthema knüpft an die gewählte Forschungsfrage an. Oftmals werden dabei schwierige Unterrichtsthemen aufgegriffen, z. B. „Die Europäischen Institutionen im Gemeinschaftskunde-Unterricht“ oder „die Form- und Lagetoleranzen in der Fertigungstechnik“. Die gemeinsame Unterrichtsvorbereitung wird genutzt, um gemeinsam Lösungen für Unterrichtsthemen zu erarbeiten, die erfahrungsgemäß schwer zu unterrichten sind, bei denen Schülerinnen und Schüler häufig Lernprobleme zeigen oder die neu im Curriculum sind.
Mit der gemeinsamen Vorbereitung des Unterrichts wird versucht, Lösungsansätze zur Forschungsfrage zu finden und die mit ihr verbundenen langfristigen Entwicklungsziele zu erreichen. Entsprechend wird versucht, das Schülerlernen zu antizipieren. Für die beteiligten Lehrkräfte ist es eine neue und überraschende Erfahrung zu erleben, wie andere Lehrkräfte an die Vorbereitung von Unterricht gehen. Und die Erfahrung zeigt, dass es gemeinsam besser gelingt, schülergerechte und kreative Lösungen für das Lernen zu entwickeln. Für die Förderung des räumlichen Vorstellungsvermögens haben die beteiligten Lehrkräfte die Idee entwickelt, die Schülerinnen und Schüler Werkstücke mit verbundenen Augen ertasten zu lassen und zunächst Freihandzeichnungen dieser ertasteten Werkstücke anfertigen zu lassen, bevor sie ihnen die ISO-Normen für Technische Zeichnungen vermitteln und diese mit ihnen umsetzen.
Die faszinierendste Erfahrung im Lesson Study ist die Beobachtung des Schülerlernens. Selten hat man Gelegenheit, eine bzw. einen einzelnen Lernenden während einer ganzen Unterrichtsstunde zu beobachten. Wie gehen Schüler bei der Bewältigung von Aufgaben vor? Wann fragen sie ihre Mitschüler, wann nutzen sie ihre Aufzeichnungen. Wann und bei welchen Aufgaben stocken sie? Wann und wodurch sind sie abgelenkt? Welche Aufgaben begeistern sie und was ermöglicht Erfolgserlebnisse? Die Forschungsfrage bildet auch hier den Fokus für die Beobachtung. Die Beobachtungen werden mit der Zeitangabe auf farbige Post-it-Zettel möglichst präzise notiert.
In der Auswertungsphase werden mit Hilfe der Post-it-Zettel Lernaktivitätskurven der beobachteten Schülerinnen und Schüler auf Moderationswänden abgebildet – je höher der Zettel, desto höher die Lernaktivität. Auf der waagerechten Linie werden wesentliche Phasen des Unterrichtsverlaufes beschrieben. Die Moderationswände bilden die – meist dreiteilige – Struktur der Unterrichtstunde ab und zeigen das Lernaktivitätssniveau der Beobachteten in diesen Phasen. Diese Lernaktivitätskurven können nur Näherungswerte sein. Dabei sind sie ein wichtiger Anstoß für den professionellen Dialog über gelingende oder erschwerte Lernprozesse sowie mögliche Erklärungen dafür.
Abbildung 1 zeigt die Lernaktivitätskurven in einer Unterrichtsstunde über den Vergleich von Dämmstoffen. Die Lernenden hatten die Aufgabe, Dämmstoffe in einer Art Olympiade miteinander zu vergleichen. Diese Spielsituation hat in der mittleren Unterrichtsphase zu einer hohen Lernaktivität bei fast allen Beobachteten geführt. Wesentlich disparater fällt die Lernaktivitätskurve in der dritte Phase, der Auswertung dieser Spielsituation und der Ergebnissicherung, aus. Dass die Kategorisierung der Dämmstoffe und die damit verbundene Abstraktionsleistung viele Lernende überforderte, ist an dem z. T. sprunghaft wechselnden Lernaktivitätssniveau erkennbar und wegen der Häufung dieses Lernverhaltens evident.
Dieser visuelle Gesamteindruck ist Anlass für den professionellen Dialog, in dem zunächst das Lernverhalten der Schülerinnen und Schüler beschrieben wird. Nach Bedarf können dabei einzelne Unterrichtssituationen wie in einer Nahaufnahme genauer betrachtet werden. Auf der Basis dieser Beschreibungen wird nach Erklärungsansätzen für das Lernverhalten gesucht. Abschließend werden Lösungsideen für die Forschungsfrage und somit die Weiterentwicklung des Unterrichts gesammelt. In der genannten Unterrichtsstunde ging es darum, Ideen für eine Aktivierung der Lernenden in der Auswertungsphase bzw. der Ergebnissicherung zu sammeln.
Es geht im Lesson Study darum, das Lernen der Schülerinnen und Schüler besser zu verstehen und Lösungsideen zu entwickeln, um sie noch besser beim Lernen unterstützen zu können. Es geht nicht um das Finden von Kausalitäten und die Überprüfung von vorher vereinbarten Zielen. Die Beobachtung ist nicht kriteriengeleitet, sondern versucht, das Lernen der Schülerinnen und Schüler ganzheitlich zu erfassen und zu verstehen. Insofern ähnelt diese Datengewinnung durch Beobachtung im Rahmen von Lesson Study qualitativen Erhebungsmethoden wie dem Leitfadeninterview. Wesentlich ist, dass die beteiligten Lehrpersonen eine forschende Grundhaltung einnehmen können und dass das Verstehen von Lernprozessen gefördert wird. Letztlich geht es darum, das Handlungsrepertoire der beteiligten Lehrerinnen und Lehrer durch die gemeinsame Unterrichtsreflexion zu erweitern.
Die didaktische Ko-Konstruktion des Unterrichts und der Fokus auf dem Schülerlernen heben Lesson Study von anderen Formen der Lehrerfortbildung und Professionalisierung ab. Lesson Study ermöglicht einen Abgleich der Unterrichtsexpertise zwischen den beteiligten Lehrkräften, ohne dass individuelle Kritik in den Vordergrund kommt.
Lesson Study erfüllt viele Bedingungen, die sich in der Forschung über die Wirksamkeit der Lehrkräfte-Fortbildung als positiv erwiesen haben: „Entwicklung der Professionalität der Lehrkräfte ist vor allem dann erfolgreich, wenn sie langfristig, schulintern und kooperativ erfolgt, auf die Lernprozesse der Schüler ausgerichtet ist und einen curricularen Bezug aufweist“ (Kullmann 2012). Wirksame Fortbildungen zeichnen sich durch „einen eher engen fachbezogenen Fokus aus, der das Lernen und die Lernprozesse der Schüler/innen (…) in den Vordergrund rückt und hierdurch das fachdidaktische und diagnostische Wissen der Lehrpersonen vertieft“ (Lipowsky 2010). Für den Einstieg in Lesson Study ist eine schulinterne Fortbildung mit Unterstützung durch zwei Beratende (für Schulentwicklung und für den Unterricht) hilfreich (s. Abb. 2). Die Erfahrung zeigt, dass viele Schulen nach dieser ersten Erfahrung diese Form des professionellen Dialogs selbständig fortführen können.
„Wenn man die Brille der Lehrperson so ändern kann, dass sie das Lernen mit den Augen ihrer Lernenden sieht, wäre das schon einmal ein exzellenter Anfang“ (Hattie 2013 S. 297). Mit Lesson Study ist dieser Vorschlag von John Hattie praktisch durchführbar.
[lightgrey_box]Weiterbildung „Lesson Study“
Deutschland: 2,5-tägige Lehrgänge werden an der Landesakademie Esslingen für Lehrkräfte und Fachberater für Unterrichtsentwicklung durchgeführt (demnächst vom 3. – 5. Dezember 2014). In diesen Lehrgängen können die Teilnehmenden alle Schritte von Lesson Study einschließlich der Unterrichtsbeobachtung kennenlernen und aktiv erproben. Abgeschlossen werden die Lehrgänge mit Hinweisen zur Moderation von Lesson Study.
Schweiz: Auch in der Schweiz sind Weiterbildungen möglich. Bei Interesse melden Sie sich gerne beim Redaktionsteam von Lernen sichtbar machen (kontakt@lernensichtbarmachen.ch). Bei genügend Interessebekundungen bemühen wir uns um eine Ausschreibung.[/lightgrey_box]
[lightgrey_box]Der Autor
Roland Knoblauch ist seit 15 Jahren Fachberater für Schulentwicklung und Fortbildner für Berufliche Schulen in Baden-Württemberg. Seine Arbeitsschwerpunkte sind die Schulentwicklung (Prozessberatung, Entwicklung von Architekturen für Veränderungsprozesse, Teamentwicklung, Evaluation) sowie die Unterrichtsentwicklung und die Personalentwicklung (Fortbildungsplanung und Qualifizierung von Schlüsselpersonen in Innovationsprozessen). Im Rahmen der Unterrichtsentwicklung und der Förderung der Kooperation in Fachschaften leitet er seit einigen Jahren schulinterne Fortbildungen und Akademielehrgänge zum Lesson Study.
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[lightgrey_box] Hinweis der Redaktion
Ein aktueller englischsprachiger Leitfaden findet sich hier:
Dudley, Pete (2014): Lesson Study: A Handbook. 4th edition.
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Literatur
Hattie, John A. C. (2013): Lernen sichtbar machen. Überarbeitete deutschsprachige Ausgabe von “Visible learning”, besorgt von Wolfgang Beywl und Klaus Zierer. Baltmannsweiler: Schneider Verlag Hohengehren.
Helmke, Andreas: Unterrichtsqualität und Lehrerprofessionalität. Diagnose, Evaluation und Verbesserung des Unterrichts; Seelze 2012
Kullmann, Harry; Lesson Study – eine konsequente Form unterrichtsbezogener Lehrerkooperation; in S. G. Huber & F. Ahlgrimm (Hg.); Kooperation. Aktuelle Forschung zur Kooperation in und zwischen Schulen sowie mit anderen Partnern (S. 69–88); Waxmann 2012
Lewis, Catherine, Lesson Study; A Handbook of Teacher-Led Instructional Change; RBS Research for Better Schools, Philadelphia 2002
Lipowsky, Frank; Lernen im Beruf. Empirische Befunde zur Wirksamkeit von Lehrerfortbildung; in: Müller u.a. (Hg.); Lehrerinnen und Lehrer lernen; Waxmann 2010
Rolff, Hans-Günter; Vom Lehren zum Lernen – Von der Notwendigkeit einer pädagogischen Theorie des Lernens; in: Journal für Schulentwicklung 1/2010