Beziehungspflege per E-Mail: Zurückhaltende Lernende erreichen
Im Deutschunterricht an einer kantonalen Fachmittelschule sollen sich möglichst alle Schülerinnen und Schüler mit freiwilligen und gehaltvollen Wortmeldungen in Diskussionen im Klassenverband beteiligen. Die gewählte Unterrichtsintervention soll bewirken, dass sich auch bisher unbeteiligte Schülerinnen und Schüler eher zu Wort melden. Von Paul Seiler
Eine mit der Intervention zur Förderung von Diskussionen verbundene Erhebung erfasste für jede Schülerin und jeden Schüler die Wortmeldungen in quantitativer und qualitativer Hinsicht und machte deren Verteilung in der Klasse sichtbar.
Die Auswertungen (mit der Klasse) dieser Untersuchung zeigten, dass sich einzelne Schülerinnen oder Schüler über zwei Erhebungsphasen, d. h. über acht Lektionen, nicht freiwillig zu Wort meldeten. Ich wollte daher abschliessend klären, weshalb sich diese Schülerinnen und Schüler nicht beteiligt hatten.
Förderung der Lehrer-Schüler-Beziehung
Wesentlich in einer für den Lernerfolg förderlichen Lehrer-Schüler-Beziehung ist ein Verhalten der Lehrperson, das deutlich macht, dass ihr etwas an den Lernenden und ihrem Lernerfolg liegt und dies kommuniziert (vgl. Hattie 2015, S. 143). Die Lehrer-Schüler-Beziehung ist mit einer Effektstärke von d = 0,75 einer der wirkstärksten von John Hattie identifizierten Faktoren.
Indem den Schülerinnen und Schülern, welche sich nie freiwillig zu Wort gemeldet hatten, die Aufgabe gestellt wurde, per E-Mail Fragen zur Nicht-Teilnahme und zum weiteren Vorgehen zu beantworten, wurde ihnen gezeigt, dass man sich für sie interessiert. Dies auf nicht bedrängende Art – um auch mit den sehr zurückhaltenden Lernenden in einen Dialog zu kommen. Die Wahl, die Kommunikation per E-Mail zu führen, bietet den Lernenden die Zeit, zu reflektieren und entsprechend zu formulieren.
Folgende Fragen habe ich gestellt:
«Was wünscht du dir von anderen, dass es dir beim nächsten Mal leichter fällt, einen freiwilligen Beitrag im Plenum zu leisten?»
«Was nimmst du dir selbst vor zu tun, damit es dir beim nächsten Mal leichter fällt, einen Beitrag im Plenum zu leisten?»
Mit der ersten Frage wird signalisiert, dass man sich bemüht, auf die Bedürfnisse der Lernenden einzugehen und daran interessiert ist, unter welchen Bedingungen sich die Schülerinnen und Schüler besser im Plenum einbringen können.
Mit der zweiten Frage soll die Verantwortung für das Lernen zu einem Teil zurück an die Lernenden gegeben werden.
Der nachstehende E-Mail-Auszug und Austausch verdeutlicht, wie Empathie gezeigt und erklärt wird, welche Ziele bzw. pädagogischen Absichten mit dem Handeln angestrebt sind. Ausserdem wird der Schülerin bzw. dem Schüler Mut zugesprochen. Auch dies sind Hinweise auf ein lernenden-zentriertes Handeln, welches gemäss John Hattie (2015) eine positive Lehrer-Schüler-Beziehung ausmacht. Des Weiteren wird kommuniziert, dass das Klassenzimmer ein Ort ist, an dem Fehler gemacht werden dürfen. Dies entspricht auch dem 6. Wegweiser von Lernen sichtbar machen (Hattie 2015, S. 281):
«Schulleitende und Lehrpersonen müssen Schulen, Lehrerzimmer und Klassenzimmer schaffen, in denen Fehler als Lerngelegenheiten willkommen sind, in denen das Verwerfen von fehlerhaftem Wissen und Erkenntnissen begrüßt wird und in denen sich die Teilnehmenden sicher fühlen können, um zu lernen, neu zu lernen und Wissen und Erkenntnisse zu erkunden.»
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E-Mail Lernende an Lehrperson
Guten Tag Herr Seiler,
Ich war noch nie der Typ, der sich gerne freiwillig meldet.
Ich melde mich selten freiwillig, weil ich es nicht gerne habe, wenn Sie bei einer Antwort nachhaken und einem weitere Fragen stellen, mit der Absicht, einen in Verlegenheit zu bringen und unsicher zu machen.
Ich wünsche Ihnen noch ein schönes Wochenende.
Mit freundlichen Grüssen
XXXXXXXXX
E-Mail der Lehrperson an Lernende
Hallo XXXXXXXXX,
herzlichen Dank für deine Mail, die es mir erlaubt, auf deine Vorbehalte respektive Ängste einzugehen.
Dass ich häufig bei Antworten nachhake, hat nichts damit zu tun, dass ich dich verlegen oder unsicher machen möchte (das ist nie mein Ziel), sondern mit meinem Bestreben, dass ihr eure Antwort präzisiert, weiterdenkt – den Gedanken klarer formuliert. Damit versuche ich ganz bewusst auch, die Diplomsituation und eine häufig anzutreffende Lebenssituation nachzuahmen.
Wir kommen dauernd in die Situation, unsere erstgenannte Antwort zu präzisieren, zu überdenken, uns nicht mit dem Erstbesten zufrieden zu geben. Für jeden ist das ein gewisser Stress, und ich denke, dass es innerhalb des geschützten Raums Schule sinnvoll ist, diese Stresssituation einzuüben und darauf zu reagieren. Schule ist ein Raum, in dem man Fehler machen darf, ein Raum, in dem sich Fähigkeiten und Fertigkeiten schrittweise entwickeln sollen, ein Raum, wo man an Grenzen herangeführt wird und lernt, diese zu überschreiten.
Hab also den Mut, dich mit deinen Gedanken und Beiträgen zu melden, auch wenn ich manchmal nachfrage, bis der Gedanke klar formuliert im Raum steht.
Mit freundlichen Grüssen
Paul Seiler
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Wirkung der Massnahme
Im Hinblick auf das eigentliche Evaluationsverfahren (freiwillige Wortmeldung) zeigte sich keine Verbesserung. Doch ich kann nun als Lehrperson das Kommunikationsverhalten auf der Grundlage der Antwort besser akzeptieren und das Verhalten einordnen.
Eine Lernende hat nach der E-Mail-Massnahme und in Absprache mit mir begonnen, das Medium zu nutzen, um bei Unklarheiten nachzufragen. Der Hemmschwelle nachzufragen, wenn etwas unklar ist, welche im Unterricht zu hoch war, konnte so entgegengewirkt werden. Dennoch suchte ich zusätzlich das Gespräch und sprach insbesondere darüber, dass die aktive Mitarbeit im Unterricht meines Erachtens ein wesentlicher Aspekt des Lernerfolgs sei. Ihre
Fragen per E-Mail waren jeweils konkret und zeigten, dass sie sich durchaus mit dem Stoff auseinandergesetzt hat. Ich denke oder hoffe, dass sie erkannt hat, dass es mir wichtig ist, sie in ihren Lernfortschritten zu begleiten und ihre individuelle Befindlichkeit zu respektieren.
Quellen
Seiler, Paul (2015): “Luuise-Projekt «Gleichverteilung von Wortbeiträgen in Klassendiskussionen fördern»”. In: Gymnasium Helveticum, Jg. 69, 1, S. 9-10.[http://www.vsg-sspes.ch/fileadmin/files/GH/GH_01_2015.pdf] Abgerufen am 14.05.2015.
Hattie, John A. C. (2015, 3. Auflg.): Lernen sichtbar machen. Überarbeitete deutschsprachige Ausgabe von «Visible learning», besorgt von Wolfgang Beywl und Klaus Zierer. Baltmannsweiler: Schneider Verlag Hohengehren
[lightgrey_box] Paul SeilerLehrperson an Fachmittelschule der Oberwalliser Mittelschule St. Ursula Brig (Fachbereich Deutsch und Geschichte) paul.seiler@oms-brig.ch [/lightgrey_box] |